Sonntag, 7. August 2011

Mädesüss


Als ich neulich durchs Moor spazierte, schön unbedacht in der Kurzen, wegen nahendem Regen als einziger Blutspender weit und breit, wurden die Stechmücken und Bremsen sofort gierig. 
Ich wollte ein paar Blutweiderich-Makros knipsen und habe alle verwackelt, weil ich dermassen angegangen wurde von den Viechern.

Aus einem Impuls heraus habe ich mir dann einige Nüsschen des nächstbesten Mädesüss gegriffen, zu Brei gekaut und mir die Spucke davon in die Armbeugen und Kniekehlen gerieben. Da wurde ich sofort in Ruhe gelassen.
Gut, dachte ich mir, schreibst über dieses Kraut.

 Die Schötchen, sich spiralig nach links ausdrehend, in verschiedenen Öffnungszuständen.

Die Mädessüsssamen schmecken grün sehr chemisch- medizinisch, ähnlich, wie Enelbin-Paste riecht, nach Eukalyptus- und Wintergrünöl. Reif und braun schmecken sie dann, unverkennbar sauer, nach Aspirin, dem Medikament, dem das Mädesüss via Spiere, Spierstrauch den Namen gab.

Ihr Gehalt an Salicylsäureverbindungen hatte sie kurzzeitig auch für die modernen Pflanzenheilkunde interessant gemacht, der es ja vor allem um die Inhaltsstoffe geht. 
Während das chemisch hergestellte ASS magenmässig oft schlecht vertragen wird, macht der pflanzliche Wirkstoff keine Probleme. Er verlässt den Magen inert und wird erst im Dünndarm zur Säure aufgespalten. 

Das Mädesüss ist der pharmazeutischen Industrie trotzdem ausgekommen, da ihr Wirkstoffgehalt so stark schwankt. In der Regel wird die Weidenrinde zur pflanzlichen Salicylsäuregewinnung verwendet.

 Der Merkur lacht ihr aus den Blüten...

Filipendula ulmaria heisst sie botanisch, die "Fadenhängende Ulmenhafte", das "ulmenhaft" ziemlich weit hergeholt von den gerippten Blättern mit weisser Unterseite. 

Das alte Spiraea fand ich passender, schon Paracelsus nannte sie so. Von (A)Spira, der Hauch, Atem? Von Spira, der Drehung? Oder von Speíra, dem Gewinde, weil man sie ihres Duftes wegen mit in Girlanden flocht?
Sie blüht nicht nur aus wie ein Vanillesahnehonigwölkchen, sie duftet auch so, wenn sie trocknet, im Heu, nach der Mahd. Daher vermutlich ihr deutscher Name Mädesüss, einer unter vielen.

Die Briten, Belgier, Franzosen aromatisieren Schlagrahm und Süssspeisen damit, wohl auch ein altes Erbe für die Vorliebe dieses Aromas (im Süden Deutschlands weiss ich jetzt nichts davon) Auch bei den Schweden heisst das Mädesüss verdächtigerweise Älgras, Ale-Gras, also Bierkraut.
Mädesüss war nachgewiesen ein übliches Wein- und Metgewürz (Mädesüss = Met-Süsse?) und eventuell sogar Bestandteil des Gruit, der keltischen Bierwürze aus Schafgarbe, Beifuss, Blütenhefen, und mutmasslich Bilsenkraut.

Die Spiere könnte durch ihre blutverdünnende und schmerzstillende (lokale Entzündungszeichen lindernde) Wirkung dem Schädelbrumm infolge der geballten Thujon-Hyoscyamin-Alkaloid- Dröhnung der anderen Beigaben am nächsten Tag vorgebeugt haben.
Der milde, sedierende Hopfen war als Bierwürze in früher Zeit unbekannt und später teilweise verpönt. Man schätzte es (u. a. bei den Kelten, lange her) wenn Bier den "Muth" hervorrief, der sich leicht zur "Wut" verkehrte.

Wiesenkönigin heisst sie, da sie mit ihrer Höhe (bis zu 2 Metern) alle anderen Blütenpflanze überragt, zumindest an den feuchten Standorten, wo sie hoch und üppig wächst. In trockeneren Übergangszonen gerät öfter mal die Herkulesstaude mächtiger, die heisst ja auch nicht umsonst so.
Im Trockenstrauss regiert sie allerdings immer, beduftet durch ihren hohen Cumaringehalt tagelang intensiv den Raum und dominiert andere Pflanzenaromen.
Hängt man sie zum Trocknen für den Tee auf, brauchts ein Tuch darunter, da sie dabei viele ihrer Blüten abwirft.

Über einen längeren Zeitraum passend eingesetzt, vermag die saure Süssduftende Magengeschwüre auszuheilen, die ja nichts anderes sind als Löcher, die die Salzsäure des Magens in die eigene Wand frisst. Eine schöne Somatisierung der Autoaggression. Rheuma, DAS (erste) Anwendungsgebiet, in dem Aspirin zum Segen wurde, ist eine andere Form des gleichen Themas.

Ihre Vorliebe für nasse Wiesengründe, Flussufer und Sumpfgebiete, wo sie aus der schwülen Feuchte hoch hinaus ins Luftige wächst, weisst auf ihren Bezug zu feuchten Krankheiten hin, die sie auszutrocknen vermag.
So wurde sie beim exudativen Stadium der Rippenfellentzündung eingesetzt und zeigt sich speziell bei den rheumatischen Beschwerden wirksam, die mit heissen und ödematösen Schwellungen beginnen, egal ob am Gelenk oder sonstwo. (dazu: Tee aus den Blüten, immer als Kaltansatz).

Lange blieb die autoaggressive Komponente des Rheumas im Dunkeln. Das einzig Evidente schien den Badern und Dottores, dass die Entzündung am liebsten dann, dort und bei denen losbrach, wo der Blutfluss "kalt" und "schwer"(dick) wurde.
Also am Ende des Winters, bei den Gwamperten, Reichen (Schmalz- und Fleischessern), bei den Melacholikern ("Schwarzgalligen") nach langer Arbeit in der Kälte oder im kalten Wasser, in den kleinen Gelenken und wenig bewegten Körperpartien.

Man behalf sich recht und schlecht mit Aderlass und lokalen Ableitungsmethoden gegen die Symptome und Schmerzen (reizende Pflaster, Blutegel, Wickel, Teilbäder etc.)
Aus irgendeinem Grund war die Spierstaude zumindest in der Literatur kein besonders gelobtes Heilkraut. In den alten Kräuterbüchern steht nicht viel über sie, was aber auch an namentlichen Verwechslungen und Unschärfen liegen kann. Je populärer oder berüchtigter ein Heilkraut, umso mehr Namen bekommt es..

Rheuma hat viele Gesichter. Das Wort bedeutet im Altgriechischen: Fluss. Rheumatismos = an der herumfliessenden Krankheit leiden.
Lange wurde es mit Gicht und Arthrosen anderer Ursache in einen Topf geworfen, es war die Krankheit, die von Gelenk zu Gelenk sprang, scheinbar grundlos Muskelgruppen, grosse Gelenke, Haut, Nerven, "Rückenmark" und innere Organe befiel, sich mal hier, mal dort als Zipperlein äusserte. (Im Grunde ist das heute nicht anders.)

Man brachte sie lange in Verbindung mit krankmachendem Miasma (griech. "schlechte Luft"), mit feuchten, finsteren Wohnungen, Städten, Gegenden oder ganzen Gebiete mit entsprechendem Klima. Deutschland dürfte grössenteils dazugezählt haben, denn das heutige Europa, inklusive seines Südens, bestand die längste Zeit überwiegend aus Sümpfen und Wald.
In den wärmeren Mittelmeergebieten hielten Sumpffieber und Malaria regelmässig tödliche Ernte. In höheren Bergtälern, im Alpengebiet, war es oft fast ein Dreivierteljahr finster und ein Vierteljahr kalt. Und das nicht nur nachts auf dem Strohsack.

Insofern hat die Miasma-Theorie schon recht: Das Klima bestimmt die Bedingungen und die Bedingungen die Krankheiten.
Ausgrabungen zeigen, dass alle frühgeschichtlichen Bewohner des jetzigen Deutschlands Nasennebenhöhlenentzündungen hatten. Warum auch immer. Der ätzende Dreck von den Feuern in den Langhäusern und Hütten während der langen Winter könnte zu ständigen Erkältungen beigetragen haben.
Oft waren schon Jugendliche mit arthrotischen Deformationen gesegnet. Viele Erwachsene dürften arge Schmerzen gelitten haben.

Es dürften wohl einfach die substantiell-arzneilichen Effekte des Mädesüss gewesen sein, die ihr zum heute sagenhaften Ruf einer "alten keltischen Zauberpflanze" verholfen haben. Das Aspirin der Frühzeit.
Dass ihre Anwendung mit viel Brimborium erfolgte, spricht nicht dagegen, die Kelten liebten bekanntlich den Zinnober.

Die Synthese von ASS, die nachfolgend weltweit leichte Verfügbarkeit in Tablettenform machte auch Aspirin zu einem Wundermittel. Es wurde buchstäblich für ALLES probiert, was im Menschen weh tun oder klemmen konnte. Es wurde nicht grundlos zum "Segen für die Menschheit" und "Medizin des Lebens" genannt.
Acetylsalicylsäure hemmt Entzündung und Fieberreiz direkt an der ersten Gewebsreaktion (an den Prostaglandinen) und gelangt durch seine blutverdünnende Wirkung auch leicht in schlecht durchströmtes Gewebe.

Das gleiche schafft auch Mädessüss, nur dass es schwerer zu dosieren ist. Bei Überdosierung macht sie Schwindel, Benommenheit, Sodbrennen, Druck- und Einschnürungsgegefühl in der Speiseröhre, Hitzeempfindungen, lokal oder am ganzen Körper, und bei zu geringer Dosierung passiert halt gar nichts.

(Als ich einmal bei Schmerzen hinter dem Auge, mit dem Radl auf dem Weg zum MRT, ein paar alte Spiersamen vom Wegrand zerkaute und schluckte, wurde mir tatsächlich blümerant zumute, mit Blutandrang zum Kopf. Der Schmerz verging kurz darauf. Ursache war ein Abszess in der Siebbeinhöhle gewesen, aber das wusste ich damals noch nicht)

In der homöopathischen Prüfung (u. a. Bojanus – prüfte es in Substanz – Der Neue Clarke, Band 9) ergaben sich Beschwerden, die sich bei Feuchtigkeit, Kälte, beim Waschen mit kaltem Wasser verschlimmern und im Freien, im Licht und bei fortgesetzter Bewegung bessern.
Wassereinlagerungen in den Gelenken, Gesichtsröte, aufgetriebene Venen an den Händen, Verschlimmerung/ generalisierte Hitze um 17.00 Uhr., und, wen wunderts, ein ganzer Haufen anderer Zipperlein.
Interessant fand ich auch Bojanus' Beobachtung eines "krankhaft gesteigertes Gewissen": Reue und Selbstekel über eine lang zurückliegende Lapalie. Dieses Symptom, bzw. dieses Anwendungskriterium für Spiaraea ulmaria schaffte es bis in den neuen Boericke, ein zuverlässiges homöopathisches Handbuch. 

Reue, Selbstekel, Skrupelhaftigkeit bis hin zur Depression gehören zur dunkle Seite des sonnigen Löwen, auch verkörpert von Aurum, dem homöopathischen Gold. Eine sehr grundsätzliche, tiefgreifende Arznei bei zerstörter Liebe(sfähigkeit), Herzleiden, bei schwerem Rheuma, Knochenschmerzen und massiven Depressionen.  Gold wurde noch im 20. Jhd. substanziell bei Rheuma eingesetzt (in Injektionen) und in diversen Metallsalzverbindungen pflanzlichen Rezepturen beigemengt.

Es ähnelt in seiner Gemütsverfassung dem Blütenwasser der Pflanze (nach der Bach-Methode). Es wirkt zwar nicht so grundsätzlich, doch es ist ein zuverlässiger Egostreichler: Es wirkt gemütsaufhellend, macht zuversichtlich und wirkt lindernd auf gebrochene Herzen und Folgeerscheinungen.

Mädesüsstee aus den Blättern (ebenfalls im Kaltauszug zu bereiten) ist ein altbewährtes Mittel bei der sog. Sommergrippe: Magenbeschwerden, Bauchkrämpfe mit Durchfall und Fieber, für Kinder am besten mit Eibisch gemischt. Der hohe Gerbstoffgehalt der Blätter wirkt als Adstringens bei Durchfall.

In der schwülen Hitze des Sommers gab es vor dem Kühlschrank-Zeitalter teils lebensbedrohliche Infektionen durch verdorbene Lebensmittel und verkeimtes Wasser.
Die rote Ruhr (blutiger Durchfall, hatten wir neulich zur letzten Volkspanik) war gefürchtet. Das Mädesüss stand freundlicherweise genau zur rechten Zeit als Heilmittel zur Verfügung: Es blüht ab Juni und die Samen sind bis in den Winter zu finden, sie haften nämlich sehr lange an den Dolden und sind dadurch dem Kranken verfügbar.
Mädesüss hält sich lange aufrecht im Schnee, "spiert" heraus, wo andere Pflanzen schon vor den ersten Frösten umgefallen und verfault sind. Dank ihrer gut verkieselten Stängel und der konservierenden Säure hemmt sie etwaigen Pilzbefall und hält auch die Huminsäuren eines Moorbodens aus.

Allgemeine arzneiliche Indikationen sind leicht zu merken:
Der Gebrauch der Blüte entspricht dem des Aspirins, bzw. der Acetylsalicylsäure: Fieber, Schmerzen, Krämpfe, Erkältungssymptome. Blutverdünnung, harn-, harnsediment- und schweisstreibend, entwässernd.
Als Gesichtswasser bei Akne.

Über die Wurzel (Radix Barbae caprinae) kann ich nur andere Autoren zitieren: Laut Lonicerus und Bock gallereinigend, der Absud gegen die rote Ruhr gebraucht, laut Losch als Pflaster bei Brüchen und "Zereissungen", als Wundmittel, zur Einspritzung in Fistelgeschwüre (=Abszess) – (würde ich nicht ausprobieren)

Die Blätter haben, wie erwähnt, zusätzlich adstringierende Wirkung auf die Schleimhäute des Verdaunungstrakts.

Bei Kopfschmerzen sind Mädesüsszubereitungen mit Vorsicht zu geniessen. Je nach Schmerzursache kann Mädesüss Linderung oder das glatte Gegenteil bewirken (zusätzlich Schweregefühl, Schwindel, Berauschungsgefühl). Manchen hilft der Duft besser als ein Tee, anderen wird genau davon übel.

Interessanterweise polarisiert nicht nur ihr Aroma, sondern auch der Geschmack ihrer Zubereitungen von "angenehm" bis "scheusslich".

... und das marsische Rot in den Stängeln. 

Signatur: Mars-Saturn, die Blüte: merkurial

Schön die verschiedenen Reifezustände, ganz typisch an einer Pflanze versammelt: 
Die runden Knospen, die offene Blüte, der reifende Samenstand gleichzeitig. Der jüngste Trieb überragt jeweils die Älteren, das lässt die Pflanze so hoch hinauswachsen. Sie blüht den ganzen Sommer hindurch und manchmal nochmal im späten Herbst. Sie ist die Pflanze, die nie "fertig" wird, streng nach oben geht und nie in die Breite. Erst zieht sie marsisch raus aus der Feuchte, dann erst macht sie ihre Wölkchen und Schötchen im oberen Drittel.
Meist neigen sich alle Pflanzen in Richtung der längsten Sonneneinstrahlung am Ort, selten stehen sie ganz lotrecht in der Landschaft.

Wenn sie welkt und das Silicea-Gerüst in Stängeln und Blättern vorherrschend wird, zeigt sie ihre saturnische Eleganz, die sich den ganzen Winter über hält. Der Mars (die Säuren) bescheren ihr dazu die nötige Abwehr.

Hier Mädesüsslaub beim Vertrocknen. Ein schönes Bild von Mars-Saturn Prinzipien in Gemeinschaft:
(Anklicken zeigt jeweils das grosse Bild.)